к-з им. 30 летия Казахской ССР
  Russlands Stiefkinder Teil1
 


Nach unten









           GESCHICHTE VON KONSTANTINOWKA

           Ein Auszug aus dem Buch von Igor Trutanow „Russlands Stiefkinder. Ein deutsches Dorf in Kasachstan“, BasisDruck Verlag Berlin, 1992, 1994.  Eine aktualisierte Neuauflage des Buches wird im Sommer 2009 in Kanada in deutscher Sprache erscheinen.

        … Lange Karawanen von chinesischen Kaufleuten zogen auf der großen Seidenstraße nach Venedig und Genua und brachten Seide, Tee, Papier und Porzelan nach Europa. Die heidnischen Saken, freie Kinder der großen Steppe, veranstalteten zur Ehre der Sonne Opferungen. Das Himmelslicht war Augenzeuge unzählbarer blutiger Zusammenstöße zwischen nomadisierenden Stämmen. Ein blutgieriger, habsüchtiger Eroberer löste den anderen ab. Wilde Horden des Dschingis Khan zogen im 13. Jahrhundert gegen das zersplitterte altrussische Kiewer Reich. 1219-1221 eroberten die Mongolen diese Steppe samt ihren Stämmen und schlossen sie an das größte Imperium der Menschheitsgeschichte an, das vom Chinesischen Meer bis nach Europa reichte.
 
      Ein Jahrhundert später, nach dem Untergang der Goldenen Horde, beherrschten die Weiße Horde, dann die Nogai-Horde und das Usbekische Khanat die Steppe. Im 16. Jahrhundert entstand das Kasachische Khanat. Ein Jahrhundert später kolonisierten die russischen Kosaken dieses Land und errichteten im westlichen Teil die russische Festungen Uralsk und Gurjew.
      1710, 1728, 1729 - in diesen Jahren überfielen die Dschungaren das schwache Kasachische Khanat. 1726 bat der kasachische Khan Abdulchair die russische Zarin Anna Iwanowna um Schutz vor den dschungarischen Eindringlingen. Die Zarin schickte ihre Truppen nach Kasachstan. Und für diese Hilfe sollten die Kasachen zu Untertanen der russischen Krone werden. Bis 1740 wurde das Land, das die Russen „Kirgisische Steppe“, und deren Bewohner „Kirgisen“ nannten, an das Russische Reich angeschlossen...
   
       Wie kamen sie hierher, die Deutschen, in die muslemische Provinz unseres Landes? Welche Wege führten die Nachkommen der an Nord- und Ostsee, an Main, Neckar und Donau geborenen Bauern durch Zeit und Raum zu diesem Kreuzweg in Konstantinowka, wo sie nicht mehr Schwaben, Hessen, Friesen oder Pfälzer sind, sondern Russlanddeutsche heißen?
   
      Der Deutsche, der als erster diesen Boden hier betrat, hieß Alfred Edmund Brehm; 1877 kam der Naturforscher während seiner Sibirienreise in diese Steppe. Zwar hatten die Wissenschaftler Johann Georg Gmelin (1733), Karl-Friedrich von Ledebour (1826) und Alexander von Humboldt (1829) Kasachstan schon zuvor besucht, aber ihre Routen hatten abseits von Pawlodar gelegen.

    „Pawlodar, etwa in der Mitte zwischen Omsk und Semipalatinsk. Der Ort, an welchem wir uns eben befinden, ist die einzige sogenannte Stadt zwischen Omsk und Semipalatinsk und liegt mitten in der Kirgisischen Steppe, deren Jurten hart vor den Toren zu sehen sind“, schrieb Brehm am 27. April 1876 auf einer Postkarte an seine Frau. In sein Tagebuch notierte der berühmte Tierforscher, „dass nach Angaben des Kreishauptmannes von Pawlodar seit alten Zeiten etwa 6.000 Jurten zu durchschnittlich je sechs Bewohnern auf dem rechten Irtyschufer beziehentlich der rechsufrigen Seite des Kreises Pawlodar zu finden sind, wogegen auf dem linken Ufer 102 000 wohnen“.
      Um diese Zeit existierte hier noch kein Konstantinowka. Es entstand 31 Jahre später, im Jahre 1907.
     
     „Oh, König von Preußen, du großer Potentat,
     Wie sind wir deines Dienstes so überdrüssig satt.“
     
    Die Zeilen dieses alten Liedes gaben genau die Stimmung vieler preußischer Untertanen unter der Herrschaft des Königs Friedrich II. wieder. Friedrich der Große hatte sein Land in eine Militärgarnison verwandelt. Praktisch arbeitete das ganze Königreich für das Militär. Zwei Drittel des jährlichen Staatsbudgets wurde für die Armee und deren Ausrüstung ausgegeben. Das hätten die Mennoniten noch hinnehmen können, aber in die preußische Armee rekrutiert zu werden - um Gottes willen, nein! Krieg, Militärdienst und Militäreid, jede Art von Gewalt und Rache, von Unterwerfung unter staatliche Gewalt widersprachen ganz und gar ihrem Wesen und ihren religiösen Prinzipien.  
    Um die Mennoniten, diese Wehrdienstverweigerer, in die Knie zu zwingen, ergriff die preußische Regierung unter Friedrich Wilhelm II. Maßmahmen, die die Freiheiten der Mennonitengemeinden wesentlich beschränkten. Unter anderem wurde ihnen das Recht verweigert, Boden zu kaufen. Das war für sie der schwewiegendste Eingriff in ihre Existenz.
    Zu dieser Zeit erschien ein Aufruf der russischen Kaiserin Katharina II. In den Zeitungen des In- und Auslandes des folgenden Inhalts:

    „Von Gottes Gnaden Wir Catharina die Zweyte, Kaiserinn und Selbstherrscherinn aller Reußen, ec. ec. ec.
    Da Uns der weite Umfang der Länder Unsers Reichs zur Genüge bekannt, so nehmen wir unter anderen wahr, dass keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebauet liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechts nützbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die meisten Ländereyen in ihrem Schooße einen unerschöpflichen Reichthum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen halten; und weil selbige mit Holtzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meeren genugsam versehen, so sind sie auch ungemeinbequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen anderen Anlagen.
    ...Verstatten Wir allen Ausländern in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es jedem gefällig, häuslich niederzulassen.“4

    Mit diesem 1763 erlassenen Manifest, das großzügige Versprechungen für Einwanderer aus europäischen Ländern enthielt, gab Katharina II., die aus Anhalt-Zerbst gebürtige Zarin aller Reußen, auch den Mennoniten in Preußen die Hoffnung auf ein sicheres Leben in Russland. Neben der Freiheit wirtschaftlicher Tätigkeit war die Garantie ungehinderter Religionsausübung nach einer Satzung und nach eigenen Bräuchen für die Mennoniten äußerst verlockend. Dennoch vergingen nochmals 25 Jahre, bevor sich die ersten Mennoniten mit Kind und Kegel auf den Weg ins “gelobte russische Land“ begaben. Sieben Familien aus Danzig und Umgebung, etwa 70 Seelen, zogen am 22. März 1788 nach Osten, ein weiteres Glied in unserer Zeitkette.
   
    Diese 70 Mennoniten gelangten über Riga nach Krementschug im südrussischen Gouvernement Tschernigow. Ein Jahr später wanderten weitere 228 mennonitische Familien nach Südrussland aus, dieses Mal nach Chortitza im Gouvernement Jakaterinoslaw. Hier ließen sie sich nieder, gründeten Familien und machten den Boden urbar. Gerade letzteres nämlich war wichtig für die russische Regierung, die mit Hilfe der Zugewanderten die Lage der Landwirtschaft Russlands zu verbessern hoffte, denn die Arbeit der leibeigenen russischen Bauern war uneffektiv.   
    Nach der Einwanderung wurden die mennonitischen Emigranten Untertanen des russischen Reiches, bekamen 65 Desjatinen (etwa 71 ha) Land pro Familie, hatten einen Sonderstatus und genossen lange Zeit einige Privilegien: freie Religionsausübung, Steuerbegünstigung, Befreiung vom Militärdienst.
   
    Katharinas neue Untertanen gründeten am rechten Ufer des Dnepr die Kolonien Chortitza, Inseldorf Chortitza, Blumengart, Kronsweide, Neuenburg, Neuendorf, Einlage, Rosengart, Rosental, Schönhorst und andere. Das Leben der Kolonisten am neuen Ort war allerdings nicht das reine Idyll. 1800 siedelte die russische Regierung 150 mennonitische Familien wegen häufiger Missernten aus dem Gouvernement Jekaterinoslaw ins Gouvernement Taurien ans Ufer der Molotschnaja um.5  Zwischen 1803  und 1820  zogen nochmals 616 Familien, Landsleute aus Preußen, dorthin. In diesen Jahren gründeten die im Gouvernement Taurien die Kolonien Halbstadt, Altenau, Blumenort, Blumenstein, Fischau, Fürstenau, Lichtenau, Ladekop, Lindenau, Münsterberg, Muntau, Orloff, Petershagen, Rosenort, Schönau, Schönsee, Tiege und Tiegenhagen.
   
        Im Frühjahr 1907 kamen sechs Mennoniten aus Tokmak, im Gouvernement Taurien, in den Landstrich, in dem heute Konstantinowka liegt. Die Pioniere Peter Rempel, Dietrich Wilms, Franz Friesen, Jörg Thyssen, Johann und Abraham Eck erforschten die Steppe weit hinter Pawlodar und beschlossen, hier ein Dorf zu gründen. Das teilten sie ihren Landsleuten in einem Brief mit, der aus Pawlodar nach Tokmak abgesandt wurde.Um diese Zeit erlebten alle mennonitischen Kolonien in Südrussland eine Krise. Der Boden reichte nicht mehr aus, da die mennonitischen Hofwirtschaften bei der Erbschaft nicht geteilt wurden. Nur ein Sohn in der Familie, in der Regel der jüngste, erbte die ganze Wirtschaft. Die anderen Söhne bekamen aus dem Regierungsvorrat Land. Doch nun war diese Landreserve völlig ausgeschöpft.
    Die russische Regierung half Tausenden von Kolonisten, in Mittelasien und Sibirien auf freiem Boden neue Dörfer zu gründen. Auch landlose russische Bauern, die bereits 1861 von der Leibeigenschaft befreit wurden, siedelten sich in fernen Provinzen des Russischen Reiches an. All diese Umsiedler bekamen von der Regierung eine finanzielle Unterstützung von 100 Rubel für die Reise und für den Neubeginn.
   
    Im Herbst 1907 kam nochmals ein Dutzend Pioniere im künftigen Konstantinowka an. Sie bauten in der kahlen Steppe Unterkünfte für die Umsiedler aus Tokmak. Von den Kasachen, die nur zur Sommerzeit in dieser Gegend wohnten und im Winter mit ihren Herden nach Südkasachstan zogen, lernten sie, Lehmbauten zu errichten. Sie fertigten aus den Oberschichten des brachliegenden Bodens eine Art Ziegel - das einzige Baumaterial in der kargen kasachischen Steppe. Bauholz für Dächer, Türen und Fernsterrahmen wurde auf dem Basar in Pawlodar gekauft. Holzdielen gab es in diesen Erdhütten nicht. Die Menschen lebten auf dem bloßen Erdboden.
   
    Nachdem Beamte der Kreisverwaltung Pawlodar die Umsiedler besucht hatten, um die Sachlage zu inspizieren, bekam der Ort den Namen Konstantinowka. Im Umkreis des Ortes entstanden weitere Dörfer der südrussischen Mennoniten. Um einer „Germanisierung“ der Ortsnamen vorzubeugen, wurde ihnen eine Liste mit den von der Kreisverwaltun bestätigten Namen für neuzugründende Dürfer vorgelegt, alles Ableitungen von russischen Eigennamen: Olgino, Borissowka, Konstanitowka, Nataschino u.a. Die „taufgesinnten“ Männer wählten den männlichen Namen Konstantin. Die übrigen Namen wurden unter die anderen neuen Mennoniten-Dörfer im Kreis Pawlodar verteilt.
    Im folgenden Frühjahr siedelten etwa 200 Kolonisten nach Konstantinowka um; sie kamen vorwiegend aus Tokmak, Melitopol und Chortitza. Bis nach Omsk fuhren sie mit der Eisenbahn. Dort erwarben sie Pferde mit Wagen und gelangten so über Pawlodar zu ihrem Bestimmungsort. Nach der Ankunft bekam jede Familie 60 Desjatinen (65,4 ha) brachliegendes Land. Drei Jahre vergingen, bis dieses Neuland unter den Pflug genommen wurde. Die landwirtschaftliche Technik, Holzeggen und Einscharpflüge sowie Saatgut, Weizen, Hafer, Gerste und Maiskolben, wurden in Pawlodar gekauft.
   
    Die Menschen lebten sich in Konstantinowka ein. Der erste Dorfschulze David Fast legte großen Wert auf die Anpflanzung von Bäumen und Büschen im Dorf. Steckreise wurden in Sibirien und in der Ukraine bestellt. David Fast verpflichtete jede Familie, vor ihrem Haus Bluen und vier Pappeln anzupflanzen.
   
    1909 wurde drei Kilometer von Konstantinowka entfernt ein Mennonitendorf gegründet, das Rawnopol genannt wurde. Das Leben in beiden Dörfern schien in den gewohnten Bahnen zu verlaufen - die Menschen arbeiteten, heirateten, brachten Kinder zur Welt, priesen Gott in einem neuen Bethaus für das schwierige, aber satte und sichere Leben, und für seine Gaben am neuen Wohnort: 900 kg Getreide ernteten die Bauern im Durchschnitt von einem Hektar.
   
    In der kasachischen Steppe, durch Hunderte Kilometer von der alten Heimat getrennt, bewahrte die mennonitische Gemeinde ihre Sprache und Menno Simons Lehre vor der ganzen übrigen „sündhaften“ Welt, erwartete sie ruhig, wohlbehalten und in sich harmonisch das jüngste Gericht. Stattdessen aber erlebte sie zwei Generalproben für das Weltuntergangsdrama.
    Det erste Weltkrieg hieß damals in Russland „Deutscher Krieg“. Die Einwohner Konstantinowkas wurden in den globalen Zusammenstoß  zwischen dem Dreibund und der Entente einbezogen. Bereits seit 1874, als im Russischen Reich die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, wurden auch die Mennoniten einberufen.  15 000 Nachfolger Mennos protestierten dagegen mit ihrer Auswanderung nach Kanada und in die USA. Um die Exodus dieser tüchtigen Ackerbauern zu verhindern, musste die russische Regierung einen Kompromiss eingehen: Die Mennoniten wurden zu „friedlichen“ Truppen einberufen und dienten als Sanitäter, Feuerwehrleute und Förster. Aber nicht nur deshalb leisteten Burschen mennonitischer Dörfer während des ersten Weltkrieges ihren Militärdienst in Sanitätszügen, Lazaretten oder in rückwärtigen Truppenteilen. Der Krieg hieß ja „Deutscher Krieg“ und wurde gegen Deutschland und seine Alliierten geführt. „Sicher ist sicher“, mögen die Russen dabei gedacht haben.
   
     Der Krieg führte das wirtschaftlich schwache Russische Reich in den Ruin. Das Volk hungerte. Es war müde und erbittert.
    Die Mennoniten in Konstantinowka überlebten den „Deutschen Krieg“ relativ unbeschadet. Die beiden Revolutionen in Petrograd (der deutsche Stadtname „Petersburg“ wurde 1915 russifiziert), die mit der Machtergreifung durch die Bolschewiki und einem vierjährigen Bürgerkrieg endeten, waren für die Einwohner Konstantinowkas jedoch verhängnisvoll. Der Bürgerkrieg schlug auch um Kasachstan keine Bogen. Die Rote Armee stürzte in Werny (später Alma-Ata, heute Almaty) und in anderen Städten Kasachstans die demokratisch gewählte Provisorische Regierung und errichtete die „Diktatur des Proletariats“. Nun wurden die Burschen aus Konstantinowka in die Rote Armee rekrutiert. Weder Einwende noch Berufung auf pazifistische Prinzipien der Mennoniten wurden von den Kommissaren der neuen Macht akzeptiert. Für sie galt nur die Regel: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“ Nun mussten die Anhänger der Lehre Mennos einen Kompromiss mit ihrem Gewissen eingehen, denn in dieser Situation war die Furch vor einem revolutionären Tribunal größer, als die Furcht vor Gott.

    Ein weiteres Unglück namens Prodraswjorstka widerfuhr den Mennoniten wie auch allen anderen Bauern im Lande. Der Begriff  Prodraswjorstka „bereicherte“ die russische Sprache im Bürgerkrieg. Das russisch-deutsche Wörterbuch übersetzt diesen Neologismus der sowjetischen Epoche als „Getreideablieferungspflicht“, und das harmlos klingende Wort sagt einem, der die russische Geschichte nicht kennt, gar nichts. Die ältere Bauerngeneration in der UdSSR aber erinnert sich mit Schaudern an diese sogenannte „Getreideablieferungspflicht“ wie an eine große Pest, einen riesigen Brand oder einen alles verwüstenden Raubzug. Und wie sonst sollte man die Ausplünderung der Bauern durch die sowjetischen Kommissare auch nennen?
   
    Bevollmächtigte des revolutionären Staatkomitees Pavlodar kamen zu den Mennonoten in Konstantinowka und Rawnopol und leerten  im Namen der proletarischen Weltrevolution deren Getreidespeicher, Keller, Lagerräume, Hühner- und Vieställe. Das brachte die Bauern natürlich gegen das neue Regime auf. Die Mennoniten leisteten der Prodraswjorstka im Gegensatz zu vielen russischen Bauern nur passiven Widerstand. Sie versteckten weit in der Steppe ihre Getreide- und Kartoffelvorräte, das Vieh.
    Diese Expropriationen verursachten auf dem Lande Hunger und als Reaktion darauf zahlreiche Bauernaufstände, die die Bolschewiki blutig niederschlugen. So kämpfte die Rote Armee während des ganzen Jahres 1921 gegen aufständische Bauern im Gouvernement Tambow. In dieser Zeit errichtete die Sowjetregierung zum ersten Mal ein Konzentrationslager für die Zivilbevölkerung. Die Bolschewiki praktizierten Geiselnahmen und Erschießungen von Familienangehörigen der Aufständischen.

    Am 26. August 1920 wurde in Kasachstan die Kirgisische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik mit Hauptstadt Orenburg ausgerufen. Die Kremlbürokraten machten ebensowenig wie die Zarenbeamten einen Unterschied zwischen den zwei verwandten, jedoch unterschiedlichen Völkern – den Kirgisen und den Kasachen. Erst fünf Jahre später wurde dieser Nonsens beseitigt. 1925 wurden die Mennoniten aus Konstantinowka Bürger der Kasachischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, deren Hauptstadt nun Ksyl-Orda wurde. Orenburg wurde der Russischen Föderation zugeordnet.

    Inzwischen normalisierte sich das Leben in Konstantinowka und in Rawnopol. Die “Getreideablieferungspflicht“ wurde durch gesetzlich festgelegte Steuern ersetzt. In den beiden Dörfern wurde ein Sowjet unter dem Vorsitzenden Peter Rempel aus Rawnopol eingerichtet. Man schrieb das Jahr 1929. Das Geschick maß den Bauern in Konstantinowka wie im ganzen Sowjetland ein letztes Jahr für freie Arbeit auf der eigenen Scholle zu. Die Zeit der 1921 verkündeten Neuen Ökonomischen Politik (NÖP), in der private Initiative im wirtschaftlichen Bereich staatlich gefördert worden war, lief ab. In demselben Jahr wurde im Dorf eine „Bauerngesellschaft für gemeinsame Bodenbearbeitung“ organisiert. Gemeinsam arbeiteten die Bauern auf dem einst privaten Boden, der 1917 von Sowjetstaat nationalisiert worden war. Das Vieh, landwirtschaftliche Geräte und Getreide blieben aber noch im Besitz der Bauern.

    Im Jahre 1930 wurden alle Bauern mit ihrem Gut, Vieh, landwirtschaftlichen Geräten und allen Erzeugnissen verstaatlicht. 1927 hatte die Kommunistische Partei auf dem XV. Parteitag „Kurs auf die Kollektivierung der Landwirtschaft“ genommen. Drei Jahre später wurde dieser „Kurs“ mit allen Mitteln forciert. In die „Kollektivwirtschaft“ – „der Schule des Kommunismus für die Bauern“ – wurden auch alle Einwohner der mennonitischen Dörfer im Kreis Pawlodar – Konstantinowka, Rawnopol, Otosek, Olgino, Nataschino, Borissowka – hineingetrieben. Dieser Kolchos hieß „13. Jahrestag der Oktoberrevolution“ oder kurz „13. Jahrestag“.

     Derart merkwürdige Namen für landwirtschaftliche Kooperativen, für Betriebe, Siedlungen und Straßen kenn man in unserem Lande seit der Oktoberrevolution finden. Im Gebiet um Pawlodar entstanden neben dem „30 Jahre“ auch Kolchosen  mit Namen „40 Jahre Kasachische SSR“, „20 Jahre der UdSSR“ oder „22. Jahrestag der KPdSU“…

      … Ich konnte am Vormittag Peter Warkentin, den Direktor des Dorfmuseums, besuchen. Der redefreudige Alte war immer froh, wenn ich zu ihm kam, weil ich ein aufmerksamer Zuhörer war. Peter Iwanowitsch kannte die Geschichte Konstantinowkas am besten. Sein Vater, Johann Warkentin, war übrigens der erste Vorsitzende des 1930 gegründeten Kolchos „13. Jahrestag der Oktoberrevolution“ gewesen. Von ihm und seiner Mutter berichtete Peter Iwanowitsch: „Meine Eltern sind als Kinder nach Konstantinowka gekommen. Der Vater, damals zwölf Jahre alt, die Mutter zehn. Sie wurden in der Ukraine im Dorf Liebenau, im Gouvernement Taurien gelegen, geboren. Aus Liebenau hat auch mein Großvater gestammt, die Großmutter aus Waldheim. Mein Vater war Parteimitglied, darum wurde er von der Obrigkeit im Rayon zum Kolchosvorsitzenden ernannt. Die Kollektivierung ist in Konstantinowka ruhig, ohne solch große Erschütterungen wie in Russland oder in der Ukraine verlaufen. Hier gab`s keine Entkulakisierung – die Enteignung von Großbesitzern. Vor der Revolution waren unsere Leute im Dorf wohlhabend. Sie haben keine Armut gekannt. Jede Familie hatte genug Land, die Steppe ist ja so groß. Ein durchschnittnilecher Wirt hat bei uns in Konstantinowka drei Pferde besessen. Ein Bauer mit zwei Pferden galt damals im Dorf als arm. Mein Vater galt auch als armer Bauer. Als seine Eltern gestorben waren, blieben acht Kinder zurück. Die Dorfgemeinde hat die ganze Fürsorge für die Waisenkinder übernommen. Als der Vater geheiratet hat, hat die Gemeinde ihm zur Hochzeit ein Pferd geschickt. Es war damals so Brauch im Dorf, armen und schwachen Menschen zu helfen. Die Gemeinde hat auch aufgepasst, dass alle fleißig arbeiteten. Faulenzer, die es im Dorf sehr wenig gab, hat der Schulze ins Kontior vorgeladen und ihnen ins Gewissen gereset: ´Wo sollst du sein, wenn die Sonne aufgeht? Ja, genau – auf dem Feld. Hast du das begriffen? Also, bei Sonnenaufgang sollst du nicht im Bett mit deinem Weib liegen, sondern die Sonne auf dem Feld begrüßen!`
Soziale Veraussetzungen für Armut gab es in unserem Dorf nicht.  Die Bedingungen waren für jeden gleich. Der Wohlstand eines jeden hing von seinem Fleiß und seiner Gewandtheit ab. Nach der Umsiedlung hat jeder 60 Desjatinen Land erhalten. Der Boden wurde gerecht verteilt, jeder hatte ja Land gleicher Qualität bekommen, mehrere Streifen vom guten und mehrere vom schlechten Boden. Wenn sich einer zu oft ein Schnäpschen gönnte, konnte man sich weder ein Pferd kaufen nach Pachten. Viele haben bei Kasachen Pferde gepachtet, vom Frühjahr bis zum Herbst. Für ein Pferd haben die Kasachen einen Sack Mehl genommen; sie haben ja keine Getreide angebaut, sondern nur Vieh gezüchtet. In unserem Dorf“, sagt Peter Warkentin, „haben die Menschen gut gelebt! Darum hätte man alle bei uns entkulakisieren können, wie es in Russland und in der Ukaraine getan wurde. Meine Frau ist Russin, sie stammt aus Zentralrussland. Sie selbst hat in ihrer Kindheit gesehen, wie die Leute dort auf dem Lande enteignet wurden: Das war ein schreckliches Bild! Alles Hab und Gut von Familien, die zum Beispiel mehr als eine Kuh hatten, wurde durch Kolchosbehörde und NKWD beschlagnahmt, das heißt ´vergesellschaftet`! ´Kulakenfamilien` mit Kindern und Greisen wurden aus ihren nun ´vergesellschafteten` Häusern bei klirrendem Frost auf die Straße getrieben. Man hat sie auf Schlitten gesetzt und zur Bahnstation gebracht, von wo sie in Viehwagen nach Sibirien transportiert wurden. Unterwegs nach Sibirien sind die Schwächsten, Greise und Kleinkinder, an Hunger und Ruhr gestorben, denn jeder ´Entkulakisierte` durfte nur ein kleines Bündel mit Essen und Kleidung mitnehmen. Das war schrecklich!
Die reichsten von unseren Leuten in Konstantinowka waren bereits 1927, als sie das Ende der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) fühlten, nach Kanada ausgewandert. Zu jener Zeit hat die Regierung die NÖP-Leute ausgeschaltet. Damals herrschte bei uns im Dorf Reisefieber, wie jetzt in bezug auf die Bundesrepublik. In der NÖP-Zeit gab es keinen Hunger, keine Not, alle Tische und Regale in den Geschäften waren voll. Aber viele wollten trotzdem ausreisen. Sie hatten Angst vor der Kollektivisierung, hatten Angst, ihr Vermögen und ihr Leben zu verlieren.
Aber nicht alle Ausreisewilligen in Konstantinowka kamen in Kanada an. Die meisten haben es nur bis Moskau geschafft. Von dort wurden sie zurück nach hause geschickt, denn die Grenze war nicht mehr offen. Aber die Reichen wie die Hendricks oder die Müller Diedrich Neufeld konnten über das Meer entkommen. Sie hatten Konstantinowka noch rechtzeitig verlassen.
In Rawnopol jedoch wurde eine Familie entkulakisiert. Die Obrigkeit in Uspenka hat sich nicht damit abfinden können, dass das ganze Eigentum der Bauer nun dem Kolchos gehören sollte. Die Parteiorgane haben auch Blut, menschliche Opfer gefordert. Im ganzen Land wurde in jeder Zeit eine politische Kampagne zur Enteignung und Verfolgung von ´Kulaken` durchgeführt. Das hieß damals ´Übertragung des Klassenkampfes auf das Land`. Die Regierung hat damals angefangen, das ´Kulakentum` als Klasse zu vernichten. Alle Dorfbehörden sollten ´Kulakenfamilien` benennen und sie der politischen Polizei NKWD ausliefern. Andererseits konnten die Leute - selbst aus den Dorfkontoren - vom NKWD als ´Saboteure` oder ´Kulakensympathisanten` in die schwarze Liste eingetragen werden. Und das  roch nach Lager. Eine Familie in Rawnopol hat fünf Pferde, also als die meisten, besessen. Also  wurde diese Familie nach Sibirien geschickt. Erst zwei oder drei Jahre später sind die Kinder nach Rawnopol zurückgekommen. Allein. Ihre Eltern waren in Sibirien umgekommen. Das war schrecklich...

Nach der Vergesellschaftung der Pferde haben ihre egemaligen Besitzer noch  etliche Jahre lang jeden Tag den Pferdestall des Kolchos besucht, um zu kontrollieren, ob man ihre Pferde auch gut fütterte. Die Mühle der Neufelds, die nach Kanada geflohen waren, hat zuerst dem Kolchos gehört. Dann wurde sie verstaatlicht, das heißt, es wurde ein Direktor angestellt, der vom Staat bezahlt wurde. Das ganze Einkommen von der Mühle ist von da an in die Tasche des Staates geflossen.“
Wie Peter Warkentin sagte, wurden 1930 die Bauern im Kolchos „13. Jahrestag“ folgendermaßen entlohnt: Jede Familie bekam für das ganze Jahr 600 Kilo Weizen pro Kopf. Wenn eine Familie aus, nehmen wir  an, vier Seelen besteht, bekam sie 2 400 Kilo im Jahr. Aber 1931 wurden im Kolchos sogennante Einheiten eingefüht. Für eine Einheit musste eine bestimmte Arbeitsnorm erfüllt  werden. Die ganze Wirtschaft des Kolchos wurde auf folgende Weise geführt: Der Kolchos hat ein Plansoll bekommen, so und so viel Tonnen Getreide in staatliche Speicher abzuliefern, für ein Dankeschön, ohne Entgelt. Dann musste der Kolchos Steuern, Beiträge für obligatorische Versicherung von Kolchoseigentum, Bauten, Vieh und so weiter leisten. Dazu sollte der Kolchos oft Getreide „überplanmäßig“ abliefern, auch für ein Dankeschön! Die Bauern haben von früh bis spät geschuftet, und zum Schluß haben sie fast nichts für ihre Arbeit bekommen.

„Wie es dazu kam, fragst du mich? Ganz einfach. Rechnen wir mal nach.“ Peter Warkentin nahm einen Bleistift in die Hand und schrieb Ziffern auf den Rand der „Prawda“, die auf dem Tisch lag.

So nehmen wir an: In einem Jahr haben wir 2 500 Dezitonen Getreide geerntet. 2 000 Dezitonnen sollen wir dem Staat abliefern, dazu 100 als ´überplanmäßig`. Für uns blieben 400 Dezitonnen übrig. Ziehen wir davon noch Steuern und Versicherung ab. Brauchen wir Samen? Ja. Brauchen wir neue Pflüge? Ja. Was haben wir dann am Ende? Etwa 300 Dezitonnen. Man hat damals diesen Rest durch die Gesamtzahl von Einheiten geteilt. In einem Jahr haben die Kolchosbauern, nehmen wir an, 75 000 Einheiten verdient. Was bekommen wir?“ fragte Peter Iwanowitsch sich selbst, indem er einen kräftigen Strich auf dem Zeitungspapier zog. „400 Gramm pro Tag. Wenn in der Familie der Man und die Frau gearbeitet haben, so haben sie 800 Gramm Weizen verdient. Geld hat man damals keins bekommen. Und nun sage mir, was diese 800 Gramm in einer sechs- bis achtköpfigen Familie bedeuten?: Die Menschen haben umsonst gearbeitet! Das bedeutet es. Den staatlichen Plan mussten sie unbedingt erfüllen. Und wenn der Kolchos den Plan nicht erfüllt hat, was hat das bedeutet? Das hat bedeutet, dass man den Vorsitzenden eingelocht hat. Das Amt des Kolchosvorsitzenden war ein gefährliches Amt.

Meinst du, mein Vater wollte ins Gefängnis? 25 Jahre hat er bekommen. Und wofür? Es war immer dasselbe: Der Kolchos  konnte 1943 den Plan nicht erfüllen. Weißt du, wessen er beschudigt wurde? – Der ´Konterrevolution` laut Paragraph 58, Punkt 7. Das hieß 25 Jahre. Der Vater hat bis 1957 gesessen. Genau 13 Jahre hat er in Lagern im Fernen Osten, in Komsomol am Amur verbracht. Nachher hat er immer lachen müssen, wenn er in unseren Zeitungen gelesen hat, dass die Komsomolzen in Sibirien die Stadt Komsomolsk gebaut aben. Das waren solche ´Komsomolzen` wie er gewesen!“

Bis 1933 hat der „13. Jahrestag“ aus sechs Dörfern bestanden, die in einem Gebiet von etwa 40 Quadratkilometern verstreut waren. Damals gab es keine Telefonverbindung im Kolchos. Das hat die Leitung der Wirtschaft furchtbar erschwert. Alle sechs Dörfer waren durch berittene Boten mit der Kolchosverwaltung verbunden. Man kann sich vorstellen, was damals für ein Wirrwarr geherrscht hat. Um diesen Wirrwarr zu beseitigen, hat die Obrigkeit in Uspenka 1933 beschlossen, den Kolchos zu verkleinern, das heißt der „13. Jahrestag“ in drei selbstständige Kolchosen zerstückelt wurde.

Nach der Verkleinerung und Umorganisierung aber blieb die ganze Wirtschaft nach wie vor unproduktiv. Es gab keine gute Technik, keine Traktoren. Bis 1935 wurde mit Pferden und Ochsen gepflügt. Und die Leute konnten und wollten nicht für ein bloßes Dankeschön gute Arbeit leisten. Nach dieser Verkleinerung wurden die Vorsitzenden in den neuen Kolchosen ständig abgelöst. Die Kolchosen „Fortschritt“ in Rawnopol und „Otosek“ in Otosek waren jahrelang nicht imstande, ihr Plansoll zu erfüllen. Und dafür sind alle zwei Jahre ihre Leiter in den Lagern gelandet. Im „Fortschritt“ wurde 1935 der erste Vorsitzende Nikolai Peters wegen angeblicher „Wirtschaftssabotage“ abgeholt und zu Lagerhaft verurteilt, 1935 Abraham Bergen, 1936 Peter Penner. 1937 wurde Peters Vater, Iwan Warkentin, zum Vorsitzenden im Kolchos „Fortschritt“  ernannt. Peter Warketin sagt, dass sein Vater sechs Jahre lang Glück gehabt hätte.  „Er hat sogar das Jahr 1937, als NKWD-Leute in einer Nacht 37 Man auf einmal abgeholt haben, heil überstanden. Und 1943, das war ein sehr schweres Jahr. Auf dem Feld und in den Viehställen haben nur Weiber und Kinder gearbeitet. Fast alle Männer waren ja in Lagern. Der Kolchos konnte seinen Plan besten Willen nicht schaffen.  Der Vater wurde also abgeholt. Und erst im Zug, unterwegs nach Sibirien, hat ihm ein NKWD-Offizier das Urteil vorgelesen: ´25 Jahre Haft für die Konterrevolution`. Es gab weder Gerichtsverfahren noch Beweise.“   

Kasachstan war neben Sibirien unter russischen und sowjetischen Potentaten ein Supergefängnis. Für eine unvorstellbar hohe Zahl von politischen  und kriminellen Häftlingen war es ein Strafverbüßungsort. Die Herrschenden kamen und gingen, aber die Gefängnisse blieben, wurden rekonstrueirt und ausgebaut. Konstantinowka wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht und später der Roten Armee nach Polen ebenfalls zu einem Verbannungsort. 1940 wurde ein Dutzend ukrainischer Familien aus dem polnischen Territorium deportiert. Im Spätherbst 1940, ein paar Monate nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, verwandelte sich das Mennonitendorf Konstantinowka in ein Ghetto für Hunderte aus dem Wolgagebiet, aus der Ukraine und aus Transkaukasien deportierter Deutscher, deren Ahnen im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen und religiösen Gründen den abenteuerlichen Weg nach Russland angetreten hatten.
Helene Teichrieb erzählte mir von dem Weg, der sie aus ihrem mennonitischen Heimatdorf Eckwald in der Ukraine ins mennonitische Dorf Konstantinowka geführt hatte.

Die  70jährige Modder Lene war für ihr Alter sehr rüstig. Sie wohnte mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen in einem kleinen Haus, das sie eigenhändig vor 25 Jahren gebaut hat. Darin hat sie drei Kinder großgezogen, ebenfalls ganz alleine. „Und darum“, sagt sie mir stolz, „bin ich auch Natschalnik* im Haus.“
Wie Modder Lene kocht, Teppiche stickt oder Brennholz hackt, das flößt einem durchaus Respekt ein.
„Igor, du kannst iwer min Lewe eenen groußen Roman schreibe!“

Ja, das glaube ich ihr sofort. Der Lebenslauf fast jedes Menschen in Konstantinowka ist ein großer und trauriger Roman.
Die Muttersprache der Modder Lene ist „Mennonitisch“, aber sie unterhielt sich mit mir, weil ich kaum Plattdeutsch verstehe, und sie mangelhaft Russisch spricht, in einem hübschen Kauderwelsch, das Elemente ihrer Muttersprache, des Hochdeutschen, des „Wolgadeutschen“ und des Russischen enthielt.

„Wie wir in der Ukraine im Dorf Etjwall** in Kujbyschewski Rayon, Gebiet Saporoshski wohnte, un der Krieg hat angefange, musste wir gleech den erste Sommer rausziehe aus der Ukraine. Wir musste okópy (Schützengräben) graben fier die Tanks (Panzer). Un dann habe se die Männer genomme un wechgeschickt in tyl (Hinterland) reen. Un dann habe se uns Weibsleit mit Kinder genomme. Das war sechster Oktober eenunvierzig.“
Was Modder Lene weiter erzählte, hier der allgemeinen Verständlichkeit wegen in hochdeutsch: „Die ganze Woche haben sie uns immer gesagt, dass wir uns fertig machen sollen, und wir haben jeden Tag gebacken und uns fertig gemacht. Zur Station konnten wir dann alles mitnehmen. Der Vorsitzende, es war ein Grusiner - in unserem Dorf haben lauter Mennoniten gelebt und ein paar Grusiner -, der Vorsitzende also, der hat mir geholfen aufzuladen, denn ich war allein und hatte sechs Kinder dabei. Die Schwiegermutter war krank. Ich war damals 22 Jahre und hatte sechs Kinder. Drei waren meine und drei waren die von der Schwägerin. Die musste das Kolchosvieh aus der Ukraine raustreiben, damit die Deutschen das nicht kriegen. Unser Vieh, das wurde geschlachtet für die Armee. Wir hatten Kuh, Rind, Kalb, Enten, Schweine, Hühner. Alles haben sie genommen, nur die Enten und Hühner sind zu Hause geblieben. Die haben wir geschlachtet und dann unterwegs gegessen.
Die Männer, die wurden in die Arbeitsarmee geholt. Mein Mann, der ist bei den ersten gewesen. Bei den ersten waren alle, die 1937 arrestiert worden sind. Mein ältester Bruder war auch 37 arrestiert worden. Er war in Moskau. Dort hat er im Gefängnis gesessen und hat als Buchhalter im Gefängnis gearbeitet. Mein Bruder war unschuldig, aber sie haben ihn abgeholt. Sie brauchten dort im Gefängnis einen Buchhalter, deswegen haben sie ihn geholt.
Wir sind also nach Kutor Nowoantonowka gefahren, dort sind wir in Waggons reingekommen. Unser Dorf war schon drin. Aber viele waren noch draußen und konnten die Sachen nicht mitnehmen, außer Gekochtes und Gebackenes und Koffer mit Kleidung.
Aber alles andere mussten wir stehenlassen, denn es gab keinen Platz. Dann sind wir abgefahren und mussten dreimal stehen bleiben. Die Bahn wurde von Deutschen bombardiert. So sind wir den ganzen Monat gefahren bis Nowosibirskaja, bis zur Station Promyschlennaja. Dort sind wir im November angekommen. Ich hatte drei Säcke voll Geback gehabt, mir ist nichts verkommen. Dann hatte ich Bohnen mit, Erbsen, Linsen.  Unterwegs konnten wir in der Steppe kochen, wenn der Zug gestanden hat. Und der Zug hat viel gestanden. Nicht gleich, erst nach vierzehn Tagen, da haben sie in der Steppe gestanden und gesagt: Kocht jetzt. Und wir haben gekocht. So sind wir nach Promyschlennaja gekommen.
Etliche Dörfer haben Lebensmittel gehabt und ihre Leute füttern können, unser Dorf hatte nur Kartofeln und Kraut und Rüben. Das haben wir eingetauscht für die Kleider, die wir mitgenommen hatten. Wir waren acht Seelen, wir brauchten viel. Mein ältester Sohn war sechs Jahre alt, und von den drei Waisenkindern der jüngste war auch sechs Jahre. Alle haben wir in Promyschlennaja gelebt, bis die Schwiegermutter gestorben ist. Und dann habe ich schon eine Nachricht aus Konstantinowka bekommen, dass ich dorthin zurück darf. Dort waren meine Schwägerin ihre Schwester und Bruder, und die wollten die Kinder zurück haben. So bin ich nach Konstantinowka gezogen mit den Kindern, und dort haben sie mir drei Kinder abgenommen.
Russisch habe ich nicht gelernt, aber ich habe eine deutsche Schule besucht, sieben Klassen, und in der Zeit habe ich schön gelernt. Und gleich im Sommer habe ich angefangen, als Kontolleurin in der Traktorenbrigade zu arbeiten. Das war ich dort neuen Jahre. Und die Kriegszeit über habe ich all den Treibstoff gefahren und selber das Tanken gemacht. Und immer hat der Vorsitzende gesagt: ´Gebt der Lene das schlechtste Pferd, die fährt sowieso Trab.` Und damals haben sie so schlechte Pferde gehabt, dass ich unterwegs, wenn die Fässer noch leer waren, stehen bleiben musste, da habe ich sie erst sich sattfressen lassen, und dann bin ich gefahren. Manchmal ging das Rad kaputt. Damals war ich noch so stark, ich konnte mehr Gewicht heben wie jetzt. Das war mitten in der Steppe. Ein Dorf hat da gelegen - und unser Dorf dort.  Habe ich mir die Achse angeguckt und – zur Seite. Fässer habe ich runtergeworfen und das Rad abgezogen. Und dann habe sie genommen und – rauf auf den Wagen! Das rad hab ich in die Hände genommen, und dann habe ich mit dem Genick - so – das in die Höhe gehoben und hier das Rad raufgesetzt.“

Lebhafte Gesten begleiteten die Erzählung von Modder Lene, und ich konnte mir lebhaft die 22jährige Frau in der Steppe vorstellen, wie sie den voll beladenen Wagen auf ihr Genick stemmt.
„Als ich den Wagen auf`m Genick hatte, hat mir alles geknastert darin, ich dachte, ich geh kaputt!“

„Wie ich das neunte Jahr in der Traktorenbrigade gewesen bin, da waren die Männer und die Jungen von der Arbeitsarmee zurückgekommen Das war 1948-49. Von meinem Mann habe ich keinen einzigen Brief bekommen. Wie wie verschickt worden sind, habe ich gleich nach unseren Männern gesucht. Und dann nach dem Krieg, da war eine Adresse in der Zeitung, wo wir konnten unsere Menschen suchen. Ich habe gleich geschrieben. Da schickten sie mir ein Formular mit Fragen, das habe ich ausgefüllt und abgeschickt. Die haben das Formular von einer Stelle nach der anderen geschickt, auch in die Gefängnisse, überall hin. Und wieder haben sie mir geantwortet, dass sie nichts über meinen Mann wissen. Die letzte Antwort habe ich bekommen: Der ist unter die deutschen Okkupanten gekommen, ich soll nach dem deutschen Minister schreiben.

Im siebenundvierzigsten Frühling habe ich mir eine Erdhütte gekauft, eine Kuh hab ich mir auch gekauft. Weil ich in der Traktoristenbrigade gearbeitet habe, habe ich doch mehr bekommen wie die Kolchosbauern. Wie die Arbeitsarmisten sind nach Haus gekommen, die haben so geflucht! Viele von ihnen waren dann Traktoristen bei uns, und ich musste ihre Arbeit messen, wieviel sie auf dem Feld geschafft haben. Einmal hat was nicht gestimmt. Da haben sie mir schlechte Wörter gesagt. Ich war bei meinen Eltern zärtlich erzogen. Einmal hat mein Schwiegervater zu Hause gesagt: ´Zum Teufel hin!` Da haben wir alle gestanden und bitter geweint. Alle. So schrecklich waren diese Worte für uns. Und wie die Traktoristen geflucht haben, da bin ich raus aus dem Traktor und hab mich beim Wasserfass hingestellt und hab schrecklich geweint. Ist der Brigadier zu mir gekommen: ´Nun, Lene, was ist los?` So und so, sage ich. Da hat er den Traktoristen nur gesagt: ´Sie tut alles richtig!`
Mit dem Brigadier bin ich neun Jahre Tag und Nacht gefahren. Der hat mich niemals, nicht mit einem Wort beleidigt, und ist mir nie zu nahe gekommen. Wir sind gefahren als Schwester und Bruder. Solche Menschen liebe ich.“

Modder Lene erzählte mir viel über das Leben der Kolchosbauern in der Kriegszeit. Die Existenzbedingungen der Einwohner Konstantinowkas unterschieden sich in dieser schweren Zeit kaum von denen der leibeigenen Bauern in Russland vor 200 Jahren. Die Kolchosbauern hatten mehrere verpflichtungen: Sie sollten Staats- und Kriegssteuern entrichten, jährlich dem Staat anderthalb Häute eines beliebigen Haustiers, von der Kuh, vom Schaf oder von der Ziege, abgeben. Jährlich hatten sie 75 Euer, egal ob man Federvieh hielt oder nicht, abzuliefern. Außerdem sollten sie für jedes Stück Privatvieh 45 Kilo Fleisch als Steuer abgeben. Wenn jemand dazu nicht imstande war, trug man seine Schuld in eine Liste ein. Im nächsten Jahr musste der Schuldner dann das Doppelte entrichten. Zahlreiche Obligationen pressten zusätzlich die letzten Kopeken aus den Bauern heraus. All diese schweren Steuern bedrücketen gleichermaßen deutsche und russische, ukrainische, kasachische Kolchosbauern und anderer Nationalitäten in der UdSSR bis zum Tod Stalins 1953. Dann lockerte der Staat etwas die Zügel.
Eine Sonderkomission aus dem Rayonszentrum kontrollierte die Entrichtung der Steuern. Sie drohte allen „böswilligen“ Schuldnern mit Gerichtsverfahren. So wurde auch Helene Teichrieb wegen ihrer großen Schulden von einem Steuerinspektor aus Uspenka, übrigens einem Deutschen, vor Gericht gestellt. Um ein Exempel zu statuieren, im Kolchos gab es viele derartige Schuldner, verurteilte das Gericht Helene zu einer Geldstrafe in Hähe von 2 000 Rubel. Im Falle der Nichtzahlung drohte man ihr eine Gefängnisstrafe an.
Dann wurde in einer Kolchosversammlung über das Schicksal von Helene Teichrieb entschieden. Der Wucherer aus Uspenka bedrohte sie, und Helene weinte bitterlich. Sie versuchte sich vor dem Inspektor zu rechtvertiegn. Ein Staatsanwalt aus Uspenka wohnte dieser moralischen Exekution bei. Frau Teichrieb schilderte ihm die Armut und Hilflosigkeit. Der Staatsanwalt begriff sehr wohl, dass es völlig unmöglich ist, einem Menschen zweimal die Haut abzuziehen. Nach der Versammlung veranlasste er den Wucherer, alle Schuldscheine von Helene zu zerreißen.
„´Geh jetz auf die Arbeed`, hat mir der gude Mann jeseggt, ´un schaffe ruhig`.“  An diesen Staatsanwalt erinnerte sich Modder Lene mit viel Dankbarkeit. Damals hätte sie ihm die Hände küssen mögen. „Siehst du, Igor, was fier Menschen es hier gegebe hat. Een Deitscher wollte mich in die tjurma***eenstecke un mine Tjenje****verhungere lasse. Un een russischer Mensch hat mich gerettet.“

Ich fragte Modder Lene, wovon sich die Bauern während des Krieges ernährt hätten.
„Die Leit habe eene janz dinne Supp aus Itschike*****gekocht un habe die zwee Mal am Dach gegesse. Das war unser eenzige Kost.“

Das gleiche Schicksal brachte 1941 etwa 400 Wolgadeutsche und 100 Transkaukasiendeutsche nach Konstantinowka. Die „Sonderaussiedler“ wurden zuerst bei den Einheimischen untergebracht.  Im Dorf gab es nun plötzlich eine NKWD-Kommendatur, die die Sonderaussiedler beaufsichtigte. Jeder Sonderaussiedler musste sich einmal im Monat bei dem Kommandanten Abakirow melden. Keiner durfte das in ein Ghetto verwandelte Dorf Konstantinowka verlassen. Sogar zeitweilige Abwesenheit galt als Fluchtversuch.  Im Frühjahr wurden im Kolchos baracken für die Sonderaussiedler gebaut. Dort mussten sie abgesondert von den Einheimischen wohnen. Damals kam es nicht selten zu Spannungen zwischen den einheimischen Mennoniten und den Deportierten. Die hungernden zerlumpten Wohlgadeutschen und Schwaben aus Transkaukasien stahlen den Mennoniten Federvieh, Kleidung und Geschirr. Wie mir meine mennonitischen Freunde erzählten, hätten die Einwohner Konstantinowkas vorher weder Tür- noch Vorhängeschlosser gekannt. Und nun mussten sie auf ihren Hausrat tüchtig aufpassen.
Der Kommandant Abakirow verschärfte zudem die Spannungen, indem er den Einheimischen verbot, mit den Sonderaussiedlern außerhalb der Arbeit zu verkehren. Nach dem berüchtigten Erlass der sowjetischen Regierung vom 28. August 1941 wurden die Aussiedler der Kollaboration mit den faschistischen Aggressoren beschuldigt.
Im Spätherbst 1942 wurden die Sonderaussiedler den Mennoniten „gleichgestellt“: Alle Dorfeinwohner, außer den Kasachen,  Russen und Ukrainern, kamen unter die Aufsicht der Kommandatur. In diesem Herbst begann die sogenannte „Mobilisierung in die Arbeitsarmee“.
In die „Arbeitsarmee“ (im Dialekt meiner deutschen Freunde „Trudarmej“) wurden Männer zwischen 15 und 60 Jahren und Frauen zwischen 16 und 55 Jahren „mobilisiert“. Fast alle deutschen Männer im entsprechenden Alter gerieten in die „Arbeitsarmee“. Jede zweite arbeitsfähige Frau wurde ihren Kindern entrissen und nach Sibirien hinter Stacheldraht gebracht.
Die „Mobilisierung“ der Kolchosbauern in die „Arbeitsarmee“ erinnerte an die Sklavenmärkte des Alten Rom oder an die des Südens der USA im 18. Jahrhundert.
Nach Konstantinowka kamen die Sklavenhändler in NKWD-Uniform und bestellten beim Kolchosvorsitzenden so und so viel gesunde Arbeitskräfte. Der Vorsitzende musste eine Namensliste aufstellen. Von der „Mobilisierung“ blieben auch nicht die alleinigen Ernährer kinderreicher Familien oder stillende Mütter verschont. Aber alle bitteren Tränen und flehentlichen Worte der Mütter hatten keine Wirkung auf die pflichtbewussten NKWD-Beamten.
Verwaiste Kinder, das heißt Kinder, deren Eltern sichin Arbeitslagern befanden, waren, wenn sie im Dorf keine Verwandten mehr hatten, zum Verhungern verurteilt.
„Kinder sind Blumen des Lebens“, „Unsere Zukunft sind unsere Kinder“, „Die einzige priviligierte Klasse in der UdSSR sind die Kinder“. Diese Sprüche entstanden schon in den ersten Jahren des sowjetischen Staates. Vor allem Genosse Stalin liebte es, wie zahlreiche Fotos und Gemälde aus jener Zeit bezeugen, sich mit Kindern fotografieren zu lassen. Unter inoffiziellen Titeln Stalins war auch dieser: „Der beste Freund aller Kinder“. Darum wurden die Waisenkinder in Konstantinowka und Rawnopol vom Sowjetstaat nicht im Stich gelassen. Im Gebäude einer ehemaligen Schule in Rawnopol wurde ein Kindeheim errichtet. Vom ständig überfüllten Kinderheim erzählte mir die 66jährige Olga Abramowna Klassen, eine ehemalige Schullehrerin, die 1941 aus ihrer Heimat in der Ukraine nach Konstantinowka verschleppt worden war. Olga Klassen hatte einmal dieses Heim besucht und kann es bis zum heutigen Tag nicht vergessen: Etwa zwanzig schmutzige Kinder in verlausten, zerfetzten Lumpen saßen oder lagen apathisch in der Nähe eines Ofens. Die kleinen Menschen waren völlig abgemagert. Von Unterernährung gezeichnet hatten sie übergroße und kahlgeschorene Schädel. Ihre Gesichter waren ebenso grau wie ihre Kleider. Olga Klassen hatte nicht ausmachen können, wer ein Junge und wer ein Mädchen war.
Von den weißen Wänden war der Putz abgebröckelt.  An einer Wand hing ein großes Bild vom väterlich lächenden Stalin. Solche Bilder aufzuhängen war damals Vorschrift für alle Kindereinrichtungen der Sowjetunion. Unter dem Bild stand in diecken Buchstaben für alle Kinder lesbar: „Vielen Dank dem Genossen Stalin für unsere glückliche Kindheit“.

Die Aufsicht der Kommandatur über die Deutschen in Konstantinowka und in Rawnopol verschärfte sich um 1948 noch mehr. Am 26. November wurde der Regierungserlass veröffentlicht, dass „Deutsche, Kalmücken, Inguschen, Tschetschenen, Finnen, Letten und anderein vorgegebene Gebiete für ewig umgesiedelt wurden, und dass sie bei Verlassen des Wohnortes ohne Sondergenehmigung der Organe des Ministeriums des Innern mit Zwangarbeit bis zu 20 Jahren bestraft werden.“ 7
Das Leben der Bauern in der „Freiheit“ von Konstantinowka unterschied sich somit nur wenig von dem Leben ihrer Landsleute in den sibirischen Lagern. Unter der NKWD-Aufsicht durften die Menschen selbst ihre Verwandten in naheliegenden Orten nicht besuchen. Auch waren sie von jeglicher medizinischer Betreuung und vom Krankenhaus in Uspenka abgeschnitten.  In Konstantinowka und Rawnopol gab es nicht einen einzigen Arzt, auch dieser Umstand führte zu zusätzlichen Tragödien. So erzählte mir mein Freund Heinrich Buller, dass seine 16jährige Schwester Elisa 1950 während der Feldarbeit von einem Skorpion in den Fuß gestochen wurde. Die meisten arbeiteten damals barfuß auf dem Acker, denn kaum einer konnte sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit ein paar Schuhe leisten. Das Gift der Skorpione, die in der kasachischen Steppe leben, ist einen gesunden Menschen nicht tödlich. Aber für einen Menschen mit geschwächtem Organismus ist der Stich lebensgefährlich. Er muss schnellsten mit  Antitoxin behandelt werden. Wo aber sollte man das Antitoxin herbekommen? Im Dorf gab es keinen Arzt, und der Weg nach Uspenka zum Krankenhaus bedeutete unter diesen verschärften Bedingungen 20 Jahre Lager. So lag Elisa schwerkrank zu Hause, und Mutter Anna Buller blieb nichts anderes übrig, als zu dem von den Bolschewiki verbotenen Gott zu beten und auf seine Hilfe zu hoffen. Innerhalb von acht Tagen verschlechterte sich Elisas Befinden zusehends, dann trat Agonie an. Da nahm Buller kurz entschlossen ihre Tochter und transportierte sie mit Pferd und Wagen nach Uspenka ins Krankenhaus. Zwei Tage lag das Mädchen dort, am dritten Tag starb es. Zu der verzweifelten Mutter sagte ein Artz: “Sie sind viel zu spät gekommen.“
Anna Buller fuhr die Leiche ihrer Tochter nach Hause. Die Dorfbewohner begleiteten Annas langsame Fahrt durch das Dorf mit besorgten Blicken. Sie waren überzeugt davon, dass der Kommandant Abakirow sie vor Gericht zerren würde. Aber zum größten Erstaunen aller geschah dies nicht. Immerhin war es für Abakirow ziemlich riskant, diesen Verstoß gegen den Regierungserlass nicht zu melden. Im Dorf meinte man, es habe im Stalinschen Beamten wohl einmal der Mensch die Oberhand gewonnen.

Ende 1944 wurden etwa 100 Tschetschenen und Inguschen aus Transkaukasien nach Konstantinowka deportiert. Angehörige dieser Völker wurden wie die Russlanddeutschen der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht bezichtigt. Nur wenige erlebten die Freilassung 1956 aus Konstantinowka und Rawnopol. Nur wenige konnten in ihre Heimat zurückkehren. In Rawnopol sah ich auf einem vernachlässigten, von wildem Unkraut überwucherten Friedhof Gräber von deportierten Menschen.

Konstantinowka - ein Kreuzpunkt von Wegen und Schicksalen. Ein Kreuzweg vieler Völker mit gemeinsamem Schicksal und gemeinsamem Schmerz. Der Kreuzweg von Konstantinowka war typisch für die Sowjetdeutschen – der Stiefkinder von Mütterchen Russland.


* russ: Chef
** Eckwald
*** russ.:Gefängnis
**** mennonitisch: Kinder
***** mennonitisch: Kartoffeln




Nach oben
 
  2008 - 2024 ©&Design by Sperling  
 
Diese Webseite wurde kostenlos mit Homepage-Baukasten.de erstellt. Willst du auch eine eigene Webseite?
Gratis anmelden