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JAKOB GERING aus Buch Russlands Stiefkinder |
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aus dem Buch von Igor Trutanow "Russlands Stiefkinder"
Ein deutsches Dorf in Kasachstan.
JAKOB GERING
„Ein richtiger Mann soll nach seinem Tode sieben Söhne und sieben Brunnen hinterlassen“, sagt ein kasachisches Sprichwort. Wasser ist in der Tat der größte Reichtum in der Steppe – Wasser bedeutet hier Leben. Als Gott am 3. Schöpfungstag sagte: „Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besonderem Orte, dass man das Trockene sehe“, da war Kasachstan der Ort, der nichts als trockene Erde abbekam.
Den Dörfern Konstantinowka und Rawnopol hat ein talentierter Mann viel Wasser, sehr viel Wasser verschafft, im übrigen auch die Bären, die Kamele, die Fabriken und schließlich den guten Ruf: Er hieß Jakob – Hering, Häring, Gehring und Göring, so verschieden wurde sein Name wiedergegeben. Ich will den ehemaligen Vorsitzenden des Kolchos „30 Jahre“ Gering nennen, weil so sein Name von den Bewohnern Konstantinowkas ausgesprochen wird.
Ohne dieses Wasser wäre es dem Kolchos unmöglich gewesen, 42 428 Hektar Boden zu bewässern und 7 Tausend Rinder, 18 Tausend Schafe, 16 Tausend Schweine, etwa 35 Tausend Federvieh und 17 Tausend Pelztiere zu versorgen, ganz zu schweigen von der Fischzucht. Man bedenke die klimatische Bedingungen: Die Niederschläge belaufen sich im Durschnitt auf 200 bis 220 mm pro Jahr. Von 78 Jahren (1899 –1977) herrschte hier, laut Chronik, 33 Jahre lang Dürre. Dazu addieren sich jährliche Temperaturschwänkungen von 87°C, das heißt von minus 45°C im Winter bis zu 42°C plus im Sommer!
Die kluge Nutzung des Wassers war der Ursprung für Gerings außerordentliche Kariere in Kasachstan.
Geboren wurde er am 29. Februar 1933, im Zeichen der Fische also, in einem kleinen Ort namens Luxemburg in Geogrien. Jakobs Eltern, Kinder schwabischen Koloniesten, verdienten ihr tägliches Brot ein Leben lang mit harter Bauernarbeit. Der Großvater war ein in ganz Georgien bekannten Bauingenieur; er war auf mehreren Erdölfeldern Aserbaidshans, des Irans und Afrikas tätig. Und er war der einzige Gering, der in beruflichen Hinsicht von der Familientradition abwich; das tradizionelle „Schaffe-Spare-Häuslebaue“ fand er bereits in seiner Jugend langweilig.
Im Alter von acht Jahren verlor Jakob den Vater: Der georgische Schwabe fiel 1940 im sowjetischen Winterkrieg gegen das kleine Finland. Ein Jahr später musste auch der junge Jakob seinen Heimatdorf verlassen, der nun nicht mehr Luxemburg hieß (das klang viel zu deutsch), sondern Bolnossi. Der Krieg und Stalin hatten die Gerings aus Georgien nach Kasachstan verschlagen. Dort lebten und arbeiteten sie gemeinsam mit anderen deportierten Landsleuten im Stalin-Kolchos.
Der junge Schwabe Jakob war ein gescheiter Bursche. Bereits mit dreizehn Jahren wurde ihm das Heizhaus einer Nähfabrik anvertraut. Die Fabrik lieferte Pelzstiefel, Pelzjacken und anderes warmes Zeug an die Front. Jakob verdiente im Kesselhaus nach damaligen Begriffen "nicht schlecht": 300 Gramm Brot am Tag. Der Arbeitstag dauerte vierzehn Stunden, es gab weder freie Wochenenden noch Urlaub. Nach seinem sechzehnten Geburtstag wurde Jakob in die sogenannte "Arbeitsarmee" einberufen. Das Wort "Arbeitsarmee" (oder "Trudarmee") ist ein Euphemismus des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) für "Konzentrationslager mit hartem Arbeitsregime". Jakob geriet in die Kirow-Kohlengrube, die dem KarLAG, der Karagandaer Filiale des GULAG, unterstand.
1948 arbeitete der minderjährige Gering vor Ort in der Grube. Seine Arbeitskollegen waren Russen - "Volksfeinde" und Kinder von "Volksfeinden" - sowie die nach Kasachstan deportierten Krimtataren, Esten und Letten. Zwei Jahre lang hat Gering unter Tage geschuftet, bis ihm die Entlassung zufiel - nicht vom Himmel, sondern vom Hangenden. Jakob hatte zweifaches Glück im Unglück: Zum einen, dass er entlassen wurde, zum anderen waren nur ein Paar Rippen gebrochen und seine Wirbelsäule war leicht verletzt. Den anderen Kumpeln war es weit schlimmer ergangen. Die Hälfte der Brigade hat an diesem Tag ihr Leben verloren. Unfälle dieser Art waren in den KarLAG-Grube keine Seltenheit, denn die Leitung des GULAG kümmerte sich nicht um Sicherheitsvorkehrungen. Wozu diese Unkosten, wenn im Lande noch genügend gesunde kräftige "Volksfeinde" herumliefen. Jakob Gering wurde aus dem Lager kurzerhand ausgebucht. Doch die Freiheit roch zunächst noch nach Medizin und Krankenbett - der Junge musste ein ganzes Jahr lang im Krankenhaus liegen. Aber, zielstrebig und ergeizig wie er war, nutzte er die Zeit, um den durch Krieg und "Arbeitsarmee" Schulstoff nachzuholen.
Im März 1953 starb der "weise Führer und Vater aller Völker" Josef Stalin. Viele Menschen begannen erleichtert und voller Hoffnung aufzuatmen. Die Lage der deportierten Deutschen wurde mancherorts tatsächlich erträglicher. Diese Chance nutzte Gering und nahm in Pawlodar am veterenärmedizinischen Technikum ein Studium auf. 1956 schloß er es mit "Sehr gut" ab und wurde als Tierarzt nach Konstantinowka geschickt, wo er vom Kolchosvorsitzenden Jakob Brecht als Zootechniker eingestellt wurde. Wegen seines Fleißes und seiner organisatorischen Fähigkeiten wurde Gering bald zum Sekretär der Kommunistischen Jugendorganisation (Komsomol) des Kolchos gewählt. Und im April 1959 wurde Jakob Gering vom Rayonkomitee der Kommunistischen Partei zum Vorsitzenden der Kollektivwirtschaft "30 Jahre" ernannt.
Gering wusste, vermutlich schon von seinem Großvater, dass es in fast jeder Gegend Grundwasser gibt. Als er den Hydrologen Schaimerdenow kennenlernte, beschlossen der Schwabe und der Kasache, in der Tiefe des Erdbodens nach Grundwasser zu bohren. Im April 1960 wurden sie fündig; das erste Bohrloch unweit von Konstantinowka spendete das ersehnte Wasser. Weitere Brunnen folgten.
Gering hatte die Fähigkeit, dieses Wasser mit Hilfe guter Fachleute in stattliche Herden, kornreiche Felder und in hartes Geld zu verwandeln. Er ließ um Konstantinowka herum mehrere Teiche für Geflügelzucht anlegen und darin Karpfen züchten, was eine echte Sensation in dieser Gegend war. Als im Wasser etliche Mineralsalze gefunden wurden, organisierte Gering sofort den Bau einer Miniralwasserfabrik, die heute vier Millionen Flaschen im Jahr produziert. Dann folgten eine kleine Wurstfabrik, eine Ziegelfabrik und Gewächshäuser, die Pawlodar mit Gurken, Tomaten und Blumen versorgten. Auf Initiative des Kolchosvorsitzenden begannen die Deutschen in Konstantinowka Kamele zu züchten, deren Wolle und besonders deren heilkräftige Milch in Kasachstan sehr gefragt sind.
Gering war nicht nur ein guter Manager, sondern auch ein feiner Psychologe. Er begriff sehr wohl, dass ohne sachkundige Fachleute seine weitreichenden wirtschaftlichen Pläne nicht zu realisieren waren. Und so fischte er aus dem Sumpf von Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit, in dem die sowjetische Planwirtschaft versunken war, kluge Köpfe heraus. Er lockte Ingenieure, Ärzte, Agronomen und andere Spezialisten mit allerlei kleinen Privilegien, mit hohen Gehältern und attraktiven Wohnungsangeboten. Sie erhielten kolchoseigene Autos zur privaten Nutzung, wurden mit preiswerten Lebensmitteln versorgt - und so kam es, dass an Fachleuten in diesem entlegenen Winkel der Welt tatsächlich kein Mangel herrschte.
Alexander Dietrich, der mit seiner Frau Anna aus dem Gebiet Karaganda nach Konstantinowka kam, erzählte mir von seinem ersten Gespräch mit Gering, der Dietrich als künstlerischen Leiter für das deutsche Folkloreensemble "Ährengold" gewinnen wollte. Gering fragte unumwunden, was Dietrich und seine Frau im Monat in Temirtau verdienten. "400 Rubel".
"Hier werden sie 450 Rubel verdienen. Wo möchten Sie wohnen? In einem Eigenheim oder in einer Wohnung?"
"In einer Wohnung."
"Ich rate Ihnen ein Eigenhaus zu nehmen. Im Winter ist es wärmer, und es gibt Wirtschaftsräume. Ohne Nebenwirtschaft und Vieh werden Sie im Dorf nicht auskommen können."
"Aber wir sind es gewöhnt, in einer Wohnung zu leben", sagte Frau Dietrich.
"Na gut. Wieviel Zimmer brauchen Sie?"
"Zwei Zimmer würden uns genügen."
"Sie bekommen eine Dreiraumwohnung."
Als Gering sah, dass Anna noch unschlüssig war, fragte er sie: "Was haben Sie noch auf dem Herzen?"
"Verstehen Sie bitte, Jakob Hermannowitsch, mir ist die Arbeit mit den Studenten an der Musikschule ans Herz gewachsen."
"Gut. Wenn Sie wollen, werden wir in Konstantinowka eine Filiale der Pawlodarer Musikschule eröffnen. Können Sie die leiten? Es wäre aber auch möglich Sie zweimal in der Woche nach Pawlodar zu fahren. Ich könnte mich darum kümmern, dass Sie ein Paar Stunden kriegen. Haben Sie sonst noch Probleme?"
Dieses Gespräch dauerte zehn Minuten. Zum Schluß fragte Gering die Dietrichs, ob sie sich schon Flugkarten nach Karaganda besorgt hätten.
"Nein, wir konnten keine Rückfahrkarten kriegen. Es ist zur Zeit alles ausgebucht."
Jakob Gering griff zum Telefon, und im Handumdrehen hatten die Dietrichs Flugkarten für den gewünschten Tag. Sie wurden mit einem Auto zum Flughafen Pawlodar gebracht. Einen Monat später bezogen sie eine Dreiraumwohnung, und Anna Dietrich unterrichtete an der Kindermusikschule in Konstantinowka.
Jakob Gering war ein Mann von Wort.
Er hatte sich großen Einfluß und viele Beziehungen auf allen Ebenen verschafft. Er wusste, welche Hebel in Bewegung zu setzen waren, um das Erwünschte zu erreichen.
Aber allein mit seinen Kenntnissen, mit seinem Überblick, mit einer fleißiger Mannschaft konnte der Käpt'n der "30 Jahre" seine Pläne nicht bewaltigen.
Es ist vielleicht in Japan oder in den USA nicht sonderlich schwer, auf einer Miniralquelle innerhalb von sechs Monaten eine Fabrik für die Herstellung von Refreshments zu bauen. Nicht so in der Sowjetunion. Das heißt nicht, dass es an guten Arbeitskräften, der nötigen Technologie oder den entsprächenden Anlagen mangelt; alles was man für den Bau einer Mineralwasserfabrik braucht, ist vorhanden. Aber jedem Bauprojekt stellt sich ein riesiges Nashorn mit kleinem Gehirn und dämlichem Blick in der Weg. Dieses Tier heißt Bürokratie. Es sucht immer, jede Initiative in jedem nur denkbaren Bereich der menschlichen Tätigkeit im Keim zu ersticken.
Denken Sie bitte nicht, das mein Volk faul und einfallslos ist, das ist es ganz und gar nicht.
Wissen Sie, warum in der Sowjetunion damals keine Einweg-Spritzen produziert wurden? Weil noch immer nicht entschieden war, welches Ministerium sich damit beschäftigen sollte. Und dann müssen zahlreiche "zuständige Dienststellen" dieses Projekt billigen, bestätigen, genehmigen, zulassen und so weiter und so fort. So lange all diese Papiere nicht gesammelt, visiert, beglaubigt und abgestempelt sind, bekam das Sowjetland keine Spritzen. Immer mehr Menschen wurden mit den Aids-Viren infiziert - doch das Nashorn tanzte weiter.
Ein Russe oder Kasache würde sich wütend und mit geballten Fäusten auf das tanzende Nashorn stürzen. Sie würden gegen die bürokratischen Windmühlen mit einer Lanze angaloppieren. Gering nicht. Er hatte das Wesen der Bürokratie gründlich studiert. Er kannte ihre schwachen Seiten und begann, dieses Tier allmählich zu zähmen: Er fütterte die Paragraphenpriester, die Ritter des "Ordens der Mächtigen Tafel".
Wie dieser Zähmungsprozess im Einzelnen verlaufen ist, kann ich nicht sagen. Die Einwohner von Konstantinowka bezeugten aber, dass unter Gering oft, gewöhnlich an den Wochenenden, schwarze Limousinen in Konstantinowka einfuhren, deren Insassen sich im Luxushotel amüsierten. Bei Gelagen, in Gesellschaft von netten Mädchen erholten sich Partei-und Wirtschaftsfunktionäre aus dem Gebiet Pawlodar und sogar aus der Hauptstadt der Kasachischen Sowjetrepublik Alma-Ata. Nun gut, was tut man nicht alles, damit die Arche "30 Jahre" mehr Wind in die Segel bekommt.
Seit dieser Zeit gilt das Luxushotel in Konstantinowka als Lasterhöhle. Und obwohl sich seit etlichen Jahren Vertreter der sowjetischen high society nicht mehr im Dorf haben blicken lassen - das Gasthaus hat seinen schlechten Ruf weg. Die frommen Dorfeinwohner nennen es "durnája gostíniza", das üble Hotel.
Das gezähmte Nashorn zahlte seinen Tribut: Gering wurde als Deputierter in den Obersten Sowjet der Kasachischen SSR, dann später in den Obersten Sowjet der UdSSR – offiziell die höchsten Machtorgane - gewählt. Er repräsentierte auf Parteitagen der KPdSU die Kasachische Republik. Er wurde mit mehreren hohen Orden und Medaillen dekoriert. 1966 würdigte die Sowjetregierung seinen Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft Kasachstans mit dem Ehrentitel "Held der Sozialistischen Arbeit" und mit dem "Goldenen Stern", der höchsten sowjetischen Auszeichnung. Nun besaß Gering Macht und Einfluß nicht nur in Konstantinowka und im Gebiet Pawlodar, sondern in ganz Kasachstan. Vor der Nominierung für die hohe Auszeichnung schlug man im Kreml Jakob Gering vor, seinen Namen der im Russischen ähnlich wie der des Befehlshabers der Nazi-Luftwaffe, Feldmarschall Hermann Göhring, klingt, zu ändern. Der Kandidat aus Konstantinowka hat das aber nicht getan.
Der Kolchos "30 Jahre" wurde berühmt. Er wurde zu einem Anziehungspunkt für Presse und Fernsehen. Die Erfahrungen der hiesigen Bauern mit der Bewässerung von Ackerflächen erweckten bei vielen Leitern anderer landwirtschaftlicher Arbeitskollektive großes Interesse. Man pilgerte hierher, man führte hier allerlei wissenschaftliche Semenare durch. Alle bewunderten die Wirtschaft, die Pfauen in den Volieren und die Tiere im Dorfzoo. Gering, seine Kamele und Bären wurden zu Filmstars: Drei Dokumentarfilme wurden über Konstantinowka gedreht, darunter ein Streifen mit dem Titel: "Wozu braucht ein Kolchos Bären?".
Der Wind blies tüchtig und regelmäßig in die Segel der "30 Jahre".
Es ist bekannt, dass das Leben der Deutschen in unserem Lande kein Zuckerlecken war und ist. Vielleicht träumte der junge Gering, als er unter Tage arbeitete, oder als er im Krankenhaus lag, von Springbrunnen, Pfauen und Schwänen in der wilden Steppe. Vielleicht entstand in seiner Fantasie ein Märchendorf mit einem Zoo voller Bären, Hirsche und Löwen. Und vielleicht ist es das, was diesen vertriebenen kaukasischen Schwaben mit soviel Energie erfüllte. Auf jeden Fall aber hat Gering Macht und Einfluß dazu benutzt, das Leben seiner nach Kasachstan verbannten Landsleute zu erleichtern und sich für die Pflege ihrer Kultur einzusetzen. Als er 1974 Folkoreensemble "Ährengold" gründete, war dies das erste deutsche Volkskunstkollektiv, das nach dem zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion entstand. In der Blütezeit des Breshnewschen „entwickelten Sozialismus“ gehörte viel Courage dazu, die Gründung eines nichtrussischen Gesangsvereins zu wagen und durchzusetzen. In dieser Zeit wurde die kulturelle Entwicklung aller nichtrussischen Völker und Völkerschaften in Richtung "Annährung" und "Herausbildung einer Gemeinschaft der Sowjetmenschen", wie es noch immer in Statut der KPdSU geschrieben steht, gesteuert. In der Retorte "Nationalitätenpolitik" sollte ein "neuer Mensch" entschtehen. Dieser Homunkulus würde gewiss nur russisch sprechen, die "Prawda" lesen und mit unbedingtem Gehorsam alle Anordnungen, Vorschriften, Befehle und Empfehlungen des Politbüros befolgen. Darüber hinaus sollte der „neue Mensch“ auch von religiösen „Überbleibseln“ völlig befreit sein. Denn nur ein solcher Mensch würde unter der "weisen Leitung der Partei" ein „lichtes kommunistisches Morgen“ auf Erden aufbauen können.
Jakob Gering brauchte seinen ganzen Einfluß und sein Ansehen bei den hohen Herren, damit die Deutschen in Kasachstan ihr Volkslied-Ensemble bekamen.
Gering richtete im Dorf ein Heimatmuseum ein, das unter anderem mit sorgsam aufbewahrten Gebrauchsgegenständen der Bauernfamilien die Geschichte der deutschen Einwanderung nach Kasachstan und ihr Leben dokumentierte. Das Museum entstand in der Zeit, als bei uns im Lande dieses Thema absolut tabu war.
Im Frühjahr 1984 kam ein merkwürdiger und verdächtiger Mensch nach Konstantinowka. Das war der Agronom Prokofij Solotarjow, der etwa fünfzehn Jahre zuvor im ukrainischen Dorf Kutkowka im Gebiet Charkow wegen "Vergeudung von Staatgut" vor Gericht gestellt worden war. Er hatte ein Stoppelfeld mit Winterkorn besät, ohne den Boden vorher mit dem Pflug zu bearbeiten. Der sonderbare Agronom hatte nämlich behauptet, die junge Saat werde im Frühling im Stroh aufgehen. Er hatte eine besondere Maschine entwickelt und sie zu Hause in einer Scheune zusammengebastelt. Diese Maschine konnte gleichzeitig pflügen und säen. Solotarjow hatte sich ausgerechnet, dass die Humusschicht nur minimal verletzt würde, was einer Vorbeugung der Bodenerosion gleichkommt. Diese Praxis war im sowjetischen Ackerbau vollkommen unbekannt. Und gerade das schien die Bürokraten im Gebiet Charkow sehr zu beunruhigen. Solotarjow wurde "Scharlatanerie" vorgeworfen und gegen ihn ein Verfahren eingeleitet. Zugleich wurde er aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Seine verdächtige Maschine wurde zerstört. Das Nashorn war zufrieden.
Der Prozeß wurde auf das Frühjahr verschoben, um abzuwarten, ob die Saat aufgehen oder nicht aufgehen würde; davon sollte das Gerichtsurteil abhängen. Die grünen Keime retteten den Agronomen zumindest vor dem Gefängnis, abe weder erhielt er eine Entschädigung für die zerbrochene Sämaschine, noch wurde er als Parteimitglied rehabilitiert. Und mehr noch: Das Arbeitsverhältnis wurde ihm gekündigt. Am Ende trug das Nashorn den Sieg davon, einen von Millionen.
Ganz zufällig hatte Jakob Gering von dieser skandalösen Geschichte erfahren. Er machte Solotarjow ausfindig und lud ihn nach Konstantinowka ein. Hier, in Gerings Reich, erhielt Solotarjow "Asyl" und alles Notwendige, damit er seine Versuche für die Saat mit "Null-Bearbeitung" fortsetzen konnte. Die Stoppelfeld-Sämaschine, die er entwickelt hatte, wurde im Kolchos aus Teilen alter Sämaschinen gebaut.
Die Bodenerosionen sind für die Menschen in Konstantinowka kein abstrakter Begriff. Zweimal haben sie hier den "schwarzen Sturm" erlebt, 1963 und 1965 schleuderte der Wind den zu Staub gewordenen Humus zum Himmel. Die Erde hat sich für das kopflose Umbrechen des Brachlandes Ende der fünfziger Jahre gerächt. Und deshalb fand Solotarjow bei Gering ein offenes Ohr für seine Ideen.
Im Übrigen würdigte der Kolchos unter Gering jährlich die besten literarischen Werke sowjetdeutscher Autoren mit Geldpreisen.
Die Zeitung „Freundschaft“*, die seit 1966 für die deutsche Bevölkerung Kasachstans herausgegeben wurde, unterstützte Gering auf etwas seltsame, das heißt rein administrative Weise: Jeder deutsche Bauer in Konstantinowka, egal ob er deutsch lesen kann oder nicht, hatte nach Gerings Anordnung die „Freundschaft“ zu abonnieren.
Im November 1984 starb Jakob Gering am Herzanschlag. Er wurde auf dem Dorffriedhof beigesetzt, dessen Tor und Mauer er gerade im Sommer, zwei Monate vor seinem Tod, hatte errichten lassen. Das schwarze, aus dünnen Eidenstangen geschweißte Tor enthiel drei der in unserer atheistischen Welt so unerwünschten Kreuze. Die lutherische und zwei baptistische Gemeinden sangen am Sarg die Seelenmesse. Die Menschen in Konstantinowka erinnerten sich an Jakob Gering mit viel Respekt…
(Ende)
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